Sie kamen aus Pommern, Danzig, Ost- und Westpreußen. Um sich vor der vorrückenden Roten Armee zu retten, flüchteten Anfang 1945 mehr als 250.000 Deutsche über die Ostsee nach Dänemark. Es waren vorwiegend alte Menschen, Frauen und Kinder – unter ihnen meine damals 21-jährige Großmutter und deren Babytochter Heidemarie, die sie Heidi nannte. Vom Schicksal der Vertriebenen erzählen bis heute deutsche Flüchtlingsgräber in Kopenhagen und anderorts in Dänemark. An einem windigen Tag im Mai begebe ich mich auf die Suche nach dem Massengrab auf Bispebjergs Kirkegård. Ich suche nach den Spuren meiner Tante, die am 27. April 1945 mit nicht einmal zehn Monaten stirbt.
Warum Flucht über Dänemark?
In den Geschichtsbüchern meiner Schulzeit sind die rund 14 Millionen deutschen Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten nur eine Randnotiz. So glaube ich bis ins junge Erwachsenenalter, meine Familie väterlicherseits stamme aus Ostpreußen. Das ist nämlich die einzige Region, die ich zu dem Zeitpunkt mit dem Ostdeutschland von früher assoziiere.
Die Heimatstadt meiner Großeltern liegt jedoch in Pommern – Stolp ist nur knapp 20 Kilometer von der Ostseeküste entfernt. Nachdem die NS-Führung zu Beginn des Jahres 1945 befohlen hat, verwundete deutsche Soldaten auf dem Wasserweg ins seit 1940 besetzte Dänemark zu bringen, schließen sich Tausende von Zivilisten an. Welche Zustände auf den Schiffen herrschen, mag man sich nur ausmalen: dicht an dicht gedrängte hungrige Menschen und während der Überfahrt die ständige Angst, von einer feindlichen Armee torpediert zu werden.
Am 9. Februar 1945 erreichen die ersten Flüchtlinge den Hafen von Kopenhagen. Für deren Unterbringung beschlagnahmen die Besatzer Krankenhäuser, Schulen, Gasthöfe, Fabriken und sogar private Unterkünfte. Dass die dänische Bevölkerung darauf mit Protest reagiert, liegt auf der Hand. Obwohl die Neuankömmlinge zahlreiche Kleinkinder mitbringen und von den Strapazen der Flucht geschwächt sind, verwehrt ihnen ein Großteil der Einheimischen die benötigte Hilfe. Laut einer kritischen Auseinandersetzung mit der Thematik im Nordschleswiger verweigern Ärzte sogar die Behandlung von Kranken.
So sterben allein 1945 über 13.000 Vertriebene in Dänemark, unter ihnen rund 7.000 Kinder unter fünf Jahren. Deutsche Flüchtlingsgräber in Kopenhagen und an anderen Orten im nördlichen Nachbarland sind wohl in den meisten Fällen das Einzige, was von ihnen bleibt und an sie erinnert. In Deutschland weitgehend unbekannte Plätze! Verwandte berichten mir, Heidi sei an einem grippalen Infekt gestorben – eine Erkältungskrankheit, die unter normalen Umständen behandelbar gewesen wäre.
Wann verließen die Überlebenden Dänemark?
Ich hatte nie die Gelegenheit, zu Lebzeiten meiner Großmutter mit ihr über die Trauer nach Heidis Tod zu sprechen. Ebenso wenig weiß ich, wie lange sie anschließend noch in Dänemark festgehalten wurde. Dass sie gleich nach ihrem Verlust die Ausreise nach Westdeutschland angetreten hat, ist unwahrscheinlich.
Die dänische Regierung streitet sich nämlich mit den Alliierten über den Verbleib der Geflüchteten. Während Dänemark die Menschen nach dem Ende der Besatzung am 5. Mai 1945 so schnell wie möglich loswerden will, verbieten die westlichen Siegermächte die Weiterreise nach Deutschland. Der Grund: Angeblich sind schon zu viele Flüchtlinge im Land.
Die dänischen Behörden internieren daraufhin die „zweiten Besatzer“ in streng bewachten Baracken-Lagern – Kontakte zwischen Deutschen und der lokalen Bevölkerung werden untersagt. Erst im November 1946 dürfen die ersten Vertriebenen in die britische Besatzungszone ausreisen – unter der Voraussetzung, dass sie bei Familienmitgliedern oder Freunden ein Dach über dem Kopf in Aussicht haben.
Wie hilflos und verlassen sich meine Großmutter unter diesen Umständen fühlt, kann ich nur mutmaßen. Das Schlimmste im Leben einer Mutter ist für sie mit Anfang 20 eingetreten. Außerdem lebt sie in vollkommener Ungewissheit, ob mein Großvater die Front überlebt hat. Es gibt weder soziale Netzwerke noch Google, wo sie nach ihm suchen könnte. Und natürlich auch keine Therapeuten, Coaches und Berater, um solche schweren Traumata aufzuarbeiten!
Kriegserbe in deutschen Familien
Anfang 2020 komme ich zum ersten Mal mit dem Thema Kriegserbe in der Seele in Berührung. In meiner Familie bin ich mit einem Berg an Problemen konfrontiert und suche nach Ursachen. Hinzu kommen Gefühle von unerklärlicher Traurigkeit, Heimatlosigkeit und Beziehungsunfähigkeit.
Bei einem extrem gut besuchten Vortrag in Berlin öffnet mir das Autoren-Ehepaar Dr. Gabriele Frick-Baer und Dr. Udo Baer die Augen. Der Satz „Es gibt keine Gnade der späten Geburt“ brennt sich tief in mein Gedächtnis ein. Die beiden Therapeuten gehen davon aus, dass Kriegsopfer und -täter ihre Traumata an ihre Kinder und Enkelkinder weitervererben – diese These vertreten auch die Epigenetiker.
Verbundenheit mit den Ahnen
Darüber hinaus habe ich den festen Glauben, dass jede Familie mit ihren Ahnen verbunden ist. Ein mysteriöses Erlebnis im Juli 2022 bringt mich schließlich zehn Monate später zu dem Flüchtlingsgrab auf Bispebjergs Kirkegård: In meinem Kopf meine ich eine Stimme zu hören. Sie stellt sich mir als Heidi vor und sagt eindringlich: „Besuch mich!“
Irgendwann antworte ich laut: „Wo soll ich dich denn besuchen? Ich habe keine Ahnung, wo dein Grab ist!“
„Man findet mich fast genauso leicht im Internet wie dich“, erwidert die Stimme.
Als ich dann „Deutsche Flüchtlingsgräber in Kopenhagen“ googele, entdecke ich ein Namensregister für Flüchtlinge des Zweiten Weltkriegs in Dänemark, erfahre zum ersten Mal von Bispebergs Kirkegård und Heidis letzter Ruhestätte. Die Stimme klagt weiter: „Keiner sieht mich! Keiner besucht mich!“
Am nächsten Tag am Bahnhof im schwedischen Sölvesborg sehe ich auf der Anzeigetafel nur Züge, die nach Kopenhagen fahren. Und wieder meldet sich die Stimme: „Komm her!“
Deutsche Flüchtlingsgräber in Kopenhagen auf Bispebergs Kirkegård
Meinen Besuch realisiere ich am 6. Mai 2023. Es ist so windig, dass ich das Bedürfnis habe, mir eine Mütze aufzusetzen. Wie es der Zufall will, hat meine Kopfbedeckung zwei zum Anlass passende Aufschriften: „Se mig“ und „Här är jag“. Das ist Schwedisch und bedeutet „Sieh mich“ und „Hier bin ich“.
Obwohl ich bei meinen Recherchen im Internet herausgefunden habe, dass sich das Flüchtlingsgrab in Block 8 befindet, laufe ich mindestens eine Stunde über den riesigen Friedhof. Zwar gibt es am Haupteingang einen Plan, doch der ändert nichts an der Tatsache, dass klare Ausschilderungen fehlen.
Je näher ich der Grabstätte komme, desto stärker zieht sich mein Hals zusammen. Obwohl ich nicht einmal ansatzweise erkältet bin, habe ich für einen kurzen Moment Erstickungsgefühle. In meiner Kehle steckt ein Kloß, der nur durch tiefes Ein- und Ausatmen verschwindet.
Auf einmal erkenne ich den Gedenkstein für die 594 Flüchtlinge und die 370 gefallenen Soldaten, die mit ihnen an der gleichen Stelle verscharrt wurden. Ich habe ihn schon einmal gesehen, vor langer Zeit in einem Fotoalbum meiner Großeltern. Rechts neben der Gedenktafel folgen mehrere Quader, auf denen die Toten mit ihren Geburts- und Sterbedaten alphabetisch sortiert sind. Als ich mit den Fingern über den Namen Heidemarie Senger streiche, meldet sich wieder die Stimme in mir: „Bruder grüßen!“
Noch eine Weile sitze ich auf einer Bank in der Nähe der Grabstätte und vergieße Tränen, die nicht meine eigenen zu sein scheinen. Ein ganzes Heer von Ahnen ist offenbar um mich herum und weint durch mich. Irgendwann lichten sich die Wolken am Himmel und auf mein Gesicht fallen Sonnenstrahlen. In dem Augenblick fühle ich mich schon ein bisschen leichter. (as)
Adresse des Kopenhagener Friedhofs
Interessierst du dich für deutsche Flüchtlingsgräber in Kopenhagen? Hast du auch verstorbene Angehörige, derer du vor Ort gedenken möchtest? Hier ist die Adresse des Friedhofs:
Bispebjergs Kirkegård
Frederiksborgvej 125
DK-2400 Kopenhagen NV
Lage der Grabstätte: Block 8
Nächster S-Bahnhof: Bispebjerg