Jegliches Gefühl in ihren Fingerspitzen begann langsam zu schwinden. Es half nichts, ihren Hals ein paar Zentimeter tiefer im Kragen ihrer roten Herbstjacke zu verstecken. Das Thermometer zeigte bestimmt nicht viel mehr als null Grad an. Seit wann saß sie überhaupt in dieser Wartehalle, wo es keine Anzeigetafeln für Bussteige und Abfahrtszeiten gab? Draußen war es immer noch dunkel, so dunkel wie um kurz vor halb drei, als der Bus eine Etage unter ihr gestoppt hatte.
Milena beobachtete die Frau in der dünnen roten Jacke schon ein paar Minuten. Die Arme fror, so viel war beim bloßen Hinsehen klar. Handschuhe trug sie keine, zitternd kauerte sie auf dem kalten Plastiksitz und klammerte sich an ihrer Handtasche fest. Ihr müder Blick schweifte durch die Wartehalle, als suchte sie dort etwas Bestimmtes. Milena zog ihr Handy aus der Jackentasche, um nach der Uhrzeit zu schauen. 22. Dezember 2017, 7:34 Uhr las sie auf dem Display. Sie hatte noch mindestens 20 Minuten Zeit, um weiter zur Arbeit zu fahren. An diesem Morgen war sie ungewöhnlich früh dran.
“Vielleicht hat das alles einen Sinn”, dachte sie. Vielleicht sei es ihr Schicksal, dieser Frau zu helfen. Sie erhob sich von ihrem Platz gegenüber und näherte sich der Frierenden. Was auf dem hellblonden Schopf dieser Dame definitiv fehlte, war eine Mütze.
“Gospođo, da li trebate pomoć?”, fragte Milena.
Die Wartende zuckte zusammen und starrte sie entgeistert an. “Wie bitte? Ich kann doch kein Kroatisch!”
Ihre Stimme klang dünn und ängstlich, ihre Sprache deutsch. Mehr verstand Milena nicht. Sie durchwühlte ihren Kopf nach der englischen Übersetzung. Mit Englisch war das immer so eine Sache bei ihr: Sie konnte es zwar gut lesen und schreiben, aber im Sprechen fehlte ihr die nötige Übung.
“Do you need help, Miss?”, wiederholte sie ihre Frage.
Die Frau riss ihre blauen Augen weit auf. “Was wollen Sie denn von mir?”, stammelte sie. In ihren Pupillen spiegelten sich Furcht und stundenlange Schlaflosigkeit.
“English not good? Which bus do you need? Where do you want to go? I only want to help you!”
“Ich verstehe kein Wort!”, antwortete der knallrot bemalte Mund der verlorenen Kreatur, die ihr das Gefühl gab, gegen eine Mauer zu reden. Milenas Schwester Marija lebte in Deutschland, aber sie selbst war nie motiviert gewesen, sich mit dieser schweren Sprache zu beschäftigen. Nicht einmal jetzt, da sich ihre beiden Jungs damit herumplagen mussten. An ihren eigenen Deutschunterricht in der Schule erinnerte sie sich kaum noch und mit ihrer deutschen Freundin Susi kommunizierte sie nur auf Kroatisch. Ja, sehr gut sogar! Die hatte es ratzfatz gelernt und kam alle paar Monate nach Zagreb.
Jetzt schrieb sie ihr im Facebook Messenger: “Guten Morgen, meine Liebe. Ich bin gerade am Busbahnhof. Könntest du mir mal bitte diese Frage ins Deutsche übersetzen? ‘Koji peron trebate?’”
“Welchen Bussteig brauchen Sie?”, antwortete Susi prompt und wünschte Milena einen guten Morgen: “Dobro jutro. Was ist denn passiert?”
Milena tippte: “Hier sitzt eine Frau aus Deutschland, die anscheinend nicht weiß, wo sie hin muss. Sie versteht weder Englisch noch Kroatisch.”
Susis Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: “Ich kenne dieses Problem am Busbahnhof in Zagreb! Am besten fragt man am Schalter nach dem Bussteig.”
Milena las laut und langsam vom Display ab: “Welchen Bussteig brauchen Sie?” Dann packte sie ihr Smartphone zurück in die Jacke. Mit Susi konnte sie auch später nach der Arbeit chatten.
“Weiß nicht”, murmelte die Frau, die dabei den kalten grauen Betonfußboden fixierte.
Milenas Deutschkenntnisse reichten gerade noch aus, um die Antwort zu verstehen. Richtig hübsch geschminkt war die Fremde. Lidschatten in schimmernden Goldnuancen schmückte ihre müden Augen, aus denen jetzt tränenlose Trauer in die Welt preschte. Ihre Füße steckten in schicken schwarzen Stiefeletten mit Absatz und silberfarbenen Applikationen. Sie sah überhaupt nicht aus wie eine Obdachlose, eher wie eine Frau beim ersten Date mit ihrem Herzensmann, der sie versetzt hatte.
“Oj Bože!”, seufzte Milena. Oh Gott!
Sie setzte sich auf den freien Platz neben der Frau und umarmte sie fest. Nur kurz spürte sie einen leichten Widerstand, dann schmiegte die Blonde den Kopf an ihre Schulter. Ihr warmer Atem kitzelte Milenas Hals.
Ein süßlicher Duft von Rosen strömte in ihre Nasenlöcher. Was war bloß in diese Kroatin gefahren? Und warum ließ sie sich von einer Wildfremden in den Arm nehmen? Aber wie gut das tat, dieser attraktiven Frau so nah zu sein! Ihr Gesicht erinnerte sie ein bisschen an Angelina Jolie. In solch große grünblaue Augen durfte sie im Sommer schon einmal schauen. Damals an einem viel einladenderen Ort als dem Zagreber Busbahnhof mit seinen verräucherten Cafés und dieser kargen Wartehalle!
Die Insel hieß Dugi Otok. Lange war sie an jenem Tag Mitte Juni an der türkisen Adria spazieren gegangen und hatte die kahlen Silhouetten der Nachbarinseln fotografiert. Sie konnte bis auf den felsigen Meeresgrund schauen, so kristallklar war das Wasser, das den wolkenlosen blauen Himmel streichelte. Irgendwo am Horizont verschwamm die Grenze zwischen Firmament und Meeresoberfläche. Das Blau strahlte so intensiv, dass sie darin versinken und nie mehr auftauchen wollte. Immer wenn ihr danach war, breitete sie ihr Handtuch aus und ging baden. Niemand hetzte sie. Hier war sie allein, ohne sich einsam zu fühlen. Eine unendliche Geborgenheit breitete sich in ihrem Körper und in ihrer Seele aus.
In der Abenddämmerung, als die untergehende Sonne den Himmel und die Adria flammend gelb, orange und rot bemalte, schlenderte sie nach dem Essen in einer urigen dalmatinischen Konoba noch einmal Richtung Ufer. Sie ließ sich auf einem sonnenbeheizten Felsen nieder und bewunderte den Sonnenuntergang. Der glühende rote Ball war schon fast im Meer verschwunden, als sie aus ihrem ebenso roten Sommerkleid schlüpfte und sich dann von ihrem BH und dem Slip befreite. Nur die Badeschuhe schützten ihre Füße vor scharfen Steinen und Seeigeln. Nackt taperte sie ins kühler werdende Nass. Sie legte sich aufs Wasser, streckte die Arme aus und schwamm der Sonne entgegen. Das Gefühl war besser als Sex. Kein Mann hatte ihr dieses Gefühl von Verbundenheit jemals geben können. Was sie ein Leben lang vermisst hatte, war ihr in Kroatien wie von Zauberhand geschenkt worden. Während sie vielleicht zum ersten von ganz vielen Malen darüber nachdachte, löste sich das Ufer hinter ihrem Rücken auf. Die eingebrochene Dunkelheit verschluckte die Insel wie die Sonne kurz zuvor. Panisch machte sie eine 180-Grad-Drehung, wirbelte mit Armen und Beinen durchs Wasser und stieß mit dem Kopf an etwas schmerzhaft Hartes. Der volle Mond hörte auf zu scheinen und die Sterne erloschen. Auf ihrer Zunge schmeckte sie Salz und dann gar nichts mehr.
Ein grünblaues Augenpaar schwebte nah über ihrem Gesicht, als sie in der Morgenröte wieder zu sich kam. Seidige rotblonde Locken umspielten ihre Wangen wie flaumige Federn. Ehe sie den ersten klaren Gedanken fassen konnte, landeten zarte Lippen auf ihrem Mund, der den Kuss prompt erwiderte. Eine Zunge suchte Kontakt zu ihrer eigenen, die sich nicht dagegen sträubte und ungehemmt mehr verlangte. Ihre noch ganz klammen Finger glitten durch das bronzefarben glänzende Langhaar des Wesens, das angenehm nach Meer duftete. Nach einem intensiven Kuss richtete es sie auf. Unter ihren etwas wackeligen Füßen spürte sie aber keine Badelatschen mehr, sondern weichen, weißen Sand. Ihre Augen registrierten ein volles Paar Brüste und Locken, die ihrer Retterin bis in die Kniekehlen reichten. Hinter diesem wohlgeformten nackten Frauenkörper erstreckte sich eine karibische Bucht, in der ein paar Segelboote geankert hatten. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages funkelten auf der Wasseroberfläche wie Millionen von Diamanten. In ihrem Herzen und im Unterleib schmerzte schon längst ein lustvoller Stich. Sie wollte diese Liebesgöttin berühren, jeden Zentimeter ihres Körpers küssen …
Sie brauchte es sich nicht zu wünschen. Die Fantasien, die sie sich innerhalb von Sekunden ausgemalt hatte, wurden ganz natürlich Wirklichkeit. Zuerst hielten sie sich eine Weile stehend im Arm und verwöhnten ihre Haut gegenseitig mit den Händen und den Lippen. Als sie von ihrem Liebesspiel ganz erschöpft waren, schmiegten sie sich eng aneinander. Die Mensch gewordene Venus flüsterte das Wort Sakarun ins Ohr der Geretteten, dann zog sie von dannen. Vielleicht auch erst während des Nickerchens, das ihr erneut das Bewusstsein raubte.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie in ihr Apartment im Fischerdorf Sali zurückgekehrt war. Am späten Nachmittag erwachte sie splitternackt in ihrem Doppelbett, ihr Kleid und die Unterwäsche waren im Wohnzimmer und im Flur auf dem Parkettfußboden verstreut. Im Badezimmerspiegel wurde ihr klar, dass sie nicht geträumt haben konnte. An ihrer Stirn prangte eine blutverkrustete Beule und an ihrem Hals leuchtete noch tagelang ein purpurroter Knutschfleck. Die Reste von Sand in gewissen Körperöffnungen malträtierten ihre empfindlichsten Stellen wie Schleifpapier.
Wieder in Deutschland, wuchs der Wahnsinn in ihr wie ein Krebsgeschwür mit Abertausenden Metastasen. Kroatien, der Traumstrand und ihre wunderschöne Geliebte hatten all ihre Gedanken geschwängert. Bis zum Ende des Sommers suchte sie in den Lesben-Bars der Stadt, die nie ihre Heimat gewesen war, einen würdigen Ersatz. Alles, was sich ihr dort bot, waren hässliche Männer ohne Penis. Keine andere Frau und auch kein Mann hatten die Glut, um ihr Feuer wieder zu entzünden. Sie blieb ungeküsst, stürzte in ein schwarzes Loch, wo ihre Sehnsucht sie mit scharfen Schwertspitzen folterte. Morgens ging sie zur Arbeit, machte Dienst nach Vorschrift und mit den Kollegen den einen oder anderen Scherz. Zu Hause weinte sie sich die Augen aus. Am 21. Dezember meldete sie sich spontan krank und fuhr zum Busbahnhof. Sie kaufte sich ein One-Way-Ticket für den ersten und einzigen Bus nach Zagreb und vergaß am Ende der Mammut-Reise ihre Mütze, ihren Schal und die Handschuhe auf dem Sitz.
“Moram ići”, murmelte der sanfte Engel in ihren Armen und löste sich langsam von ihr. Sie verstand immer noch kein Kroatisch, doch das wollte sie nun schleunigst ändern. Die kleine, zierliche Frau strich ihr noch einmal übers Haar und schenkte ihr zum Abschied ein liebes Lächeln. Während sie sich von ihr entfernte, geisterte wieder das eine unvergessene Wort durch ihren Kopf: Sakarun. (as)